Der vorliegende Text ist publiziert in Hans Rudolf Straub: "Das interpretierende System", Z/I/M-Verlag, 2001, ISBN 3-9521232-6-9
3 Relationen
3.1 Verzicht
auf benannte Relatoren
Herkömmliche Begriffsrepräsentationen verknüpfen die Begriffe über benannte Relatoren. Dies kann z.B. folgendermassen aussehen:
Abb. 4: Herkömmlicher Relatorgebrauch
Die Rechtecke in Abb. 4
bezeichnen Begriffe, die Ovale sind die benannten Relatoren.
Wir verzichten auf die benannten Relatoren, da unbenannte Relatoren zur Wissensrepräsentation völlig ausreichen und die Darstellung vereinfachen. Es genügt, zwei Typen von Relationen zu unterscheiden:
1)
Hierarchische Relationen
(is-a
Relation)
2) Attributive
Relationen (has-a Relation)
3.2 Hierarchische und attributive Relationen
Diese
beiden grundlegenden Relationstypen werden in der Wissensdarstellung nicht
textlich, sondern graphisch voneinander unterschieden, nämlich durch den Ort am
Atom, an dem die Verbindung stattfindet.
Abb. 5: Ansatzpunkte für hierarchische und attributive Relationen
Die
hierarchischen Relationen setzen am Kopf des Begriffsatoms an, nach rechts
Relationen zu Unterbegriffen, nach links zu Oberbegriffen.
Abb. 6: Darstellung von hierarchischen und attributiven Relationen
In Abb. 6 sind vier Begriffe verbunden. Der Begriff "Auto" steht als Unterbegriff von "Fahrzeug" mit diesem in einer hierarchischen Relation. "Antrieb" hingegen ist ein Attribut von "Fahrzeug", steht mit diesem also in einer attributiven Relation. Zwischen "Antrieb" und "Motor" wiederum besteht eine hierarchische Relation, denn "Motor" ist ein Unterbegriff von "Antrieb".
Durch ihre Position in der graphischen Darstellung zeigen die Begriffe klar und sofort ersichtlich ihre gegenseitige Beziehung. Alles, was auf der gleichen Zeile steht, ist hierarchisch verbunden, was auf einer tieferen Zeile steht, hingegen attributiv. Unterbegriffe stehen immer rechts von Oberbegriffen (hierarchische Relation), genauso steht das Attribut rechts vom attribuierten Begriff (attributive Relation).
Durch die Abb. 6 wird klar, dass der Relator am Bildschirm gar nicht mehr gezeichnet werden muss, sondern implizit aus der Stellung der Begriffsatome folgt. Im Modell, welches im Hintergrund vom WBE (Wissensbasis-Editor) erstellt wird, ist der Relator natürlich durchaus noch vorhanden. Er trägt nicht nur die Information über die beiden Atome, welche er verbindet, sondern darüber hinaus die Information, von welcher Bindungsstelle des linken Atoms die Bindung ausgeht. So weiss das rechte Atom (z.B. "Auto") nicht nur, welches linke (z.B. "Fahrzeug") ihm zugeordnet werden kann, sondern auch, in welcher Beziehung es zum linken Begriff steht – d.h. dass "Auto" ein Unterbegriff von "Fahrzeug" ist, und nicht etwa ein Attribut wie "Antrieb", "Preis" oder "Baujahr".
Herkömmliche Wissensrepräsentationen unterscheiden zwischen Typ (oder Klasse ) und Ausprägung . Jeder konkrete Wert in der Repräsentation wird als Ausprägung eines bestimmten Typs bzw. als Element einer bestimmten Klasse gesehen. Diese Art Begriffsrepräsentation bildet die Architektur von Datenbanken nach, wobei das Verhältnis zwischen Ausprägung und Klasse in der Wissensrepräsentation jenem zwischen Feldinhalt und Tabellenspalte in der Datenbankprogrammierung entspricht. Eine solche Architektur wird gern gewählt, weil Informatiker so etwas gut kennen und weil ein einfacher mathematischer Mengenbegriff darauf perfekt anwendbar ist.
Nun haben wir in unserer Begriffsrepräsentation auch eine Entsprechung zum Verhältnis von Klasse und Ausprägung, nämlich die Beziehung zwischen Ober- und Unterbegriff. Alles, was mit Klassen und Ausprägungen machbar ist, ist mit unseren Begriffen und der hierarchischen Relation ebenfalls möglich. Unsere Repräsentation geht aber entscheidend darüber hinaus:
1. Es ist nicht nötig, zu einem Begriff einen Oberbegriff darzustellen; ein Begriff existiert auch allein. Als Konsequenz daraus folgt:
2. Es braucht keinen obersten Begriff und auch keine Diskussion um die gleich darunter folgenden Begriffe. Die eher unfruchtbare Diskussion um die "top level ontology ", die natürlich niemals entschieden werden kann, wird im Interesse der wissensbasierten Systeme vermieden. Praktisch viel wichtiger ist die korrekte Darstellung der mittleren Bereiche der Ontologie , in denen sich auch normalerweise das praxisbezogene Denken bewegt.
3. Jeder Begriff kann sowohl Ausprägung sein wie Klasse. Er ist beidesmal derselbe Begriff. Bildlich ist dies dargestellt am Kopf des Begriffsatoms. Nach links ist er Ausprägung und bindet Oberbegriffe , nach rechts ist er Klasse und bindet Unterbegriffe (Bifazialität).
Abb. 7: Bifazialität
Wie
in Abb.
7
zu sehen, ist der Begriff "Auto" sowohl eine Ausprägung der
Klasse "Fahrzeug" wie eine Klasse für die Ausprägung
"Lastwagen"[1].
An
jeder Bindungsstelle baut ein Atom eine Liste der dort möglichen Verknüpfungen
(Relationen
) auf. Der Wissensbasis-Bearbeiter kann mit dem WBE diese Listen
jederzeit ansehen:
Abb. 8: Aufgeklappte
Bindungsliste mit 4 Liganden
Der WBE öffnet auf den entsprechenden Tastenbefehl die Liste aller bekannten Bindungen zur aktuellen Bindungsstelle. In der Abb. 8 sind dies alle dem System bekannten Unterbegriffe des Begriffs "Fahrzeug".
Da
die Bindungen zu einem Begriff vom Bindungsort abhängig sind, öffnet sich an
einer anderen Bindungsstelle
natürlich eine
andere Bindungsliste:
Abb. 9: Die Bindungslisten an zwei weiteren Bindungsstellen
Aus der Abb. 9 wird auch ersichtlich, weshalb es sinnvoll ist, mehrere attributive Bindungsstellen einzurichten. Die BS (Bindungsstelle) links in Abb. 9 bindet zu Begriffen, welche den Ort oder das Medium bezeichnen, in oder auf dem sich das Fahrzeug bewegt. Die BS rechts hingegen zeigt das Einsatzgebiet oder den Verwendungszweck des Fahrzeugs. Diese Listen sind unabhängig voneinander, und man wird zur genauen Bezeichnung eines Begriffs je einen Wert aus jeder Liste auswählen. Die Werte verschiedener Listen hingegen sind kombinierbar. Es handelt sich bei den Listen um semantische Achsen [2], auf denen Ausprägungswerte gewählt werden können, analog zu den Koordinatenachsen der Geometrie, wo ein Punkt im Raum durch die Werte auf der Längen-, Breiten- und Höhenachse definiert wird. Der semantische Raum (Kap. 8 ) ist allerdings komplizierter als der geometrische. Darauf nehmen wir Rücksicht, indem wir unser Modell auf die semantischen Gegebenheiten ausrichten, und nicht primär von einem mathematischen Modell ausgehen.
3.6 Hierarchien in Bindungslisten, direkte und indirekte Bindung
Die Liganden , das heisst die Begriffe in einer Bindungsliste, bilden unter der Bindungsstelle immer eine Hierarchie.
Abb. 10: Hierarchie von
Fahrzeugen
Herkömmliche Ontologien versuchen, die bestmögliche Begriffshierarchie festzulegen und jeden Begriff von seiner Stelle in dieser festen Hierarchie zu definieren. Dieser Versuch muss scheitern, da in Wirklichkeit die Verhältnisse immer komplexer sind. Ein wirklichkeitsadäquates System muss mehrere alternative Hierarchien handhaben können und generell darauf verzichten, eine endgültige Darstellung anzustreben. Die Auswahl der Begriffe und ihrer Verknüpfungen richtet sich jeweils nach der aktuellen Fragestellung.
Abb. 11: Alternative Hierarchie von Fahrzeugen
Wie werden nun alternative Hierarchien gehandhabt? Man könnte glauben, dass die Lösung in einem Netz läge. Dies würde bedeuten, dass man alle Hierarchien aufeinander legen würde, und so ein gigantisches Netz erhielte. In diesem Netz wäre dann z.B. ein Mountain-Bike ein Unterbegriff sowohl von Sportfahrzeug, wie auch von Landfahrzeug, Geländefahrzeug, Fahrrad, Hobby usw. Dieses Vorgehen ist im Prinzip richtig, enthält allerdings eine Falle. Man könnte versucht sein, ein endgültiges Netz anzustreben, und dann jeden Begriff mit allen seinen Verknüpfungen in diesem Netz darzustellen. Dies ist aber wegen der raschen Zunahme der Kombinationen nicht praktikabel.
Wir erstellen zwar ein solches Netz, aber es handelt sich um ein offenes Netz. Das bedeutet, dass niemals mit dem gesamten Netz gerechnet wird, sondern immer nur mit dem Teil des Netzes, der gerade nötig ist. Oft sind die Zwischenstufen der Hierarchie unnötig und verwirren nur. Dann werden sie ausgelassen. In unserer Wissensdarstellung heisst das:
Abb. 12:
Zwei alternative Verknüpfungen von "Fahrzeug" und "Jeep"
Abb.
12
zeigt zwei alternative
hierarchische Einordnungen des Begriffs "Jeep". Beide Hierarchielinien
sind semantisch korrekt, obwohl sie sich nicht in einer
hierarchischen Darstellung zur Deckung bringen lassen. Dies ist auch nicht nötig,
vielmehr wird je nach Fragestellung der Bezug zu "Auto" oder zu
"Geländefahrzeug" gewählt. Das Modell erlaubt beide Bezüge. Erst
wenn eine Aussage gemacht wird, muss man sich für die eine oder andere Verknüpfung
entscheiden. Man kann die Zwischenstufe aber auch auslassen:
Abb. 13: Dritte alternative
Verknüpfung von "Fahrzeug" und "Jeep"
Die
Bindungsstelle von Fahrzeug in Abb.
13
ist dicker als in Abb.
12
. Damit zeigt die Wissensrepräsentation an, dass das bestehende Netz
Zwischenbegriffe zwischen Fahrzeug und Jeep kennt. Der Bearbeiter kann mit einem
entsprechenden Tastenbefehl die Zwischenstufen aller möglichen Wege am
Bildschirm ansehen:
Abb. 14: Öffnung und Darstellung der alternativen Wege zwischen
"Fahrzeug" und "Jeep"
Die Abb. 14 ergibt sich, wenn eine komplexe (und wie in Abb. 13 fett dargestellte) Bindung zwischen zwei Begriffen geöffnet wird, und unterscheidet sich von einer normal aufgeklappten Bindungsliste wie in Abb. 8 dargestellt.
Die
Tatsache, dass "Jeep" in unserem Beispiel indirekt mit Fahrzeug verknüpft
ist, zeigt der WBE (Wissensbasis-Editor) bei der Öffnung der Bindungsliste mit
einem Apostroph an:
Abb. 15: Darstellung der
direkten und indirekten Bindungen
In Abb. 15
ist die Bindungsliste einer Bindungsstelle nach rechts geöffnet. Das Ganze
funktioniert aber auch umgekehrt:
Abb. 16: Bindungsliste nach links (dieselbe Stelle wie in Abb. 15)
Der WBE analysiert die Verhältnisse und öffnet die Bindungslisten immer mit
der entsprechenden Markierung der direkten und indirekten Liganden.
Die hierarchischen Verhältnisse, wie sie hier unterhalb einer hierarchischen BS gezeigt wurden, mit den direkten und indirekten Verknüpfungen und den alternativen Hierarchien , kommen natürlich nicht nur unterhalb von hierarchischen BS vor. Auch bei attributiven BS finden wir – unterhalb der Bindungsstelle – wieder eine Hierarchie. WBE und Begriffsmodell verhalten sich an attributiven BS gleich wie an hierarchischen:
Abb. 17: Hierarchie unterhalb einer attributiven Bindungsstelle
PS: "Strasse" und "Schiene" sind in der Konstellation von Abb. 17 Unterbegriffe von "Land", was durch den Apostroph vor den Wörtern angedeutet ist.