Der vorliegende Text ist publiziert in Hans Rudolf Straub: "Das interpretierende System", Z/I/M-Verlag, 2001, ISBN 3-9521232-6-9


17.1    Wortverständnis und Begriffsrepräsentation

Wenn ein Computer Texte "verstehen" soll, kann es nur in einer ersten Stufe darum gehen, einfach die Worte zu erkennen. Die eigentliche Aufgabe besteht darin, die Worte in einen Sinnzusammenhang einzuordnen.

Mit Ogden und Richards (Kap. 10.1 ) unterscheiden wir zwischen:

1. den Objekten, auf die sich eine Aussage bezieht,

2. den Symbolen (Worten), mit denen die Aussage formuliert wird,

3. den Gedanken (Begriffen und Begriffsverbindungen), in denen ein interpretierendes System die Aussage versteht.

Nicht um die Worte, sondern um die Begriffe und Begriffsverbindungen geht es, wenn eine Aussage verstanden wird. Die Worte erlangen ihre Bedeutung erst innerhalb des Kontextes, den der Empfänger der Botschaft für sie bereithält. Der Empfänger der Botschaft ist das interpretierende System, das dem vorliegenden Text den Titel gegeben hat.

Im ersten Teil dieses Buches (Kap. 1  - 7 ) ist das aktuelle maschinelle System beschrieben, mit dem wir Texte verarbeiten. Bewusst sind wir davon ausgegangen, dass wir Begriffe des Denkens repräsentieren und nicht Worte einer Sprache, sei sie mathematisch oder linguistisch (Kap. 14.6 und 14.7 ). Von Anfang an war auch klar, dass es nicht darum geht, nur die richtige Wortliste, den richtigen Thesaurus zu finden. Solche Versuche werden zwar immer wieder unternommen, bringen aber keine dauerhaften Lösungen, denn eine endgültige Wortliste lässt sich nie finden, und mit einer Wortliste allein wäre es auch nicht getan, denn nicht bloss die Worte spielen eine Rolle, sondern vor allem ihre Bezüge untereinander. Deshalb muss es darum gehen, die Bezüge klar darzustellen und die Liste der Worte und Bezüge dynamisch, d.h. offen und erweiterbar zu halten.

Wir suchten deshalb eine Notation, welche die begrifflichen Verbindungen möglichst "naturnah" modelliert. Dabei waren die Überlegungen zum Aufbau des semantischen Raumes hilfreich, wie sie in Kap. 8 dargelegt sind. Die Begriffe haben nun in der Notation unseres semantischen Interpreters eine Form, an der sich ihre Stellung im vieldimensionalen Netz der semantischen Achsen einfach und eindeutig erkennen lässt (Kap. 3.3 ).

Bemerkenswert ist die Parallelität zwischen dem Begriff, wie wir ihn für unseren semantischen Interpreter formalisierten, und dem Objekttyp der objektorientierten Programmierung (Kap. 7 und 13.2 ).

Verbindungen zwischen mehreren Begriffen lassen sich mit unserer Notation einfach, eindeutig und gut lesbar am Bildschirm darstellen (Kap. 4). Solche Begriffscluster können als Aussagen angesehen werden. Wir unterscheiden dabei zwei Arten von Aussagen (Kap. 4.4 ):

1. Statische Aussagen: Reine Begriffscluster, die nur aus Begriffen und Relationen bestehen. Solche Aussagen formulieren den semantischen Raum und geben Bezüge zwischen den Begriffen an. Sie benennen vorhandene, mögliche oder denkbare Zustände oder Existenzen der Form: "Es gibt ein X, das ein Unterbegriff von Y ist und die Eigenschaft Z hat."

2. Dynamische Aussagen: Wie die statischen Aussagen basieren sie auf Clustern aus Begriffen und Relationen, enthalten aber in den Clustern zusätzlich den Begriffen zugeordnete Operatoren (if / if not / then add / then remove). Dadurch wird es möglich, vorhandene Begriffscluster umzuformen und neue Begriffscluster aus alten entstehen zu lassen. Die dynamischen Begriffscluster wirken dabei als Regeln, d.h. als Katalysatoren der Umformung und erlauben es, die semantische Maschine zu bauen, welche den Textinput verarbeitet (Kap. 6 ).

Die dynamischen Aussagen bilden den Regelpool, d.h. die Wissensbasis (Abb. 54 und Kap. 5.2 ) für die Inferenzmaschine des Interpreters.


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