Hans Rudolf STRAUB1, Norbert FREI2, Hugo MOSIMANN1

1 Meditext AG, Zürich, 2Fachhochschule für Technik, St.Gallen  

 

 

 

Code und Informationsgehalt - ein Vergleich von 8 Klassifikationssystemen am Beispiel der Abdominalhernien

 

 

 

 

Inhaltsübersicht

   

1.     Selektiver und deskriptiver Informationsgehalt

2.     Methode und grundsätzliche Resultate

3.     Spezifische Resultate

3.1.      Achsenreduktion

3.2.      Achsentausch

3.3.      Kombinatorische Explosion versus Informationsverlust

3.4.      Implizite (uncodierbare) Information

3.5.      Ein Code, zwei Bedeutungen

4.     Zusammenfassung

 

Semantische Darstellung der 8 Klassifikationen

 

           - ICD-9

           - ICD-10

           - VESKA-OP-Schlüssel

           - ICD-9-CM

           - Rück "A"

           - Rück "B"

           - erweiterte "K"-Systematik

           - Fallpauschale "A"

           - Verwendete Merkmale und zugeordnete Farben

 

Literaturangaben

 

Korrespondenzadresse

 

 

1. Selektiver und deskriptiver Informationsgehalt

 

 

Was wir uns - besonders in der Informationstechnologie - unter dem Begriff Informationsgehalt vorstellen und quantitativ mit bits erfassen, ist diejenige Vorstellung von Information, die Shannon und Weaver bahnbrechend in ihrer "mathematical theory of communication" beschrieben haben [1] und die D.M. McKay [2] zur Unterscheidung von anderen Informationsbegriffen selective information-content nennt. Dabei wird zwischen verschiedenen voraus-definierten möglichen Zuständen einer ausgewählt und diese Auswahl (selection) entspricht der Information nach Shannon.

 

Die Angabe eines Codewertes - z. B. auf einem Krankenblatt - ist ein typisches Beispiel für eine solche Auswahl von einem aus mehreren möglichen Werten (Codes) und besitzt einen entsprechenden selektiven Informationsgehalt. Genauso ist eine Bezeichnung mit Worten - z. B. eine Diagnoseformulierung - eine Auswahl aus mehreren möglichen Diagnoseformulierungen und besitzt ihren eigenen selektiven Informationsgehalt. In beiden Fällen findet eine Selektion statt, wobei die möglichen wählbaren Zustände das eine Mal durch das Codewerk und das andere Mal durch die sprachlichen Konventionen festgelegt sind. Die Beschreibung dieser Konventionen, d.h. die Beschreibung dessen, was in diesem Systemen ausgewählt werden kann, enthält eine von der Selektion unabhängige Art von Information. McKay nennt den Gehalt an solch beschreibender Information descriptive information-content. Der deskriptive Informationsgehalt ist unabhängig davon, wie die Wahl später ausfällt; er hat nichts mit der Selektion zu tun, sondern legt im Gegenteil fest, wo die Wahl stattfinden kann.

 

Offensichtlich ist der deskriptive Informationsgehalte nicht nur bei Code und Wortbezeichnung verschieden, sondern er unterscheidet sich auch zwischen verschiedenen Codewerken und zwischen verschiedenen sprachlichen Konventionen.

Wenn wir verschiedene Codesysteme ansehen, erkennen wir sehr schnell, wie stark sich die Systeme in ihrem deskriptiven Informationsgehalt unterscheiden. Man könnte in diesem Moment leicht zu einer pessimistischen Sicht gelangen und glauben, dass durch die naturgegebenen Unterschiede in den primären deskriptiven Informationsgehalten ein Vergleich zwischen verschiedenen Codesystemen nie möglich sei. Diesen Pessimismus teilen wir nicht. Der Vergleich zwischen unterschiedlichen deskriptiven Systemen ist nicht unmöglich, sondern gerade die wichtigste und lohnendste Aufgabe, die sich in diesem Bereich der Medizininformatik stellt. Der Vergleich muss allerdings sorgfältig durchgeführt werden. Wie in früheren Arbeiten gezeigt [3,5], ist die Vorstellung des semantischen Raumes dabei hilfreich. In diesem Raum lassen sich Worte und Codes anordnen. Durch die Anordnung wird klar, welche begriffliche Information in welchen Codewerten stecken, welche in ihnen fehlen, welche auf verschiedene Codewerte verteilt sind und wann und inwieweit eine Zuordnung von verschiedenen Codes oder Worten gemacht werden darf. Die vorliegenden Arbeit soll einen solchen Vergleich von Codier- und Klassifikationssysteme am Beispiel der  Abdominalhernien zeigen.

 

 

 

2. Methode und grundsätzliche Resultate

 

Wir haben dieses Spiel der deskriptiven Informationsgehalte am Beispiel der Abdominalhernien zu veranschaulichen versucht und acht verschiedene Code- und Klassifikationssysteme verglichen (siehe Tabelle 1).

 

 

 

Typ der Klassifikation

Klassifikation

 

Anzahl semantische Achsen für Abdominalhernien

Diagnose-Klassifikation

ICD-9

4

ICD-10

4

Operations-Klassifikation

VESKA

3

ICD-9-CM

5

Versicherungs-Gruppeneinteilung

Rück "A"

4

Rück "B"

5

"K"- Schema

3

Fallgruppen-Pauschale

Fallpauschale Typ "A"

8

 

  Tabelle 1: untersuchte Klassifikationssysteme

 

  

Um die 8 Systeme zu vergleichen haben wir sie bezüglich ihrer semantischen Achsen analysiert. Eine semantische Achse kann als Dimension im semantischen Raum angesehen werden und entspricht jeweils einem Merkmal, z.B. der Farbe, dem Schweregrad oder dem betroffenen Organ. Die Werte auf der Achse entsprechen den möglichen Ausprägungen des Merkmals. Die Beziehung zwischen Wert und Merkmal ist für jede semantische Analyse grundlegend. In semantischen Netzen wird sie als "is-a" Relation gezeichnet. Wir nennen sie auch die hierarchische Relation. Bei der semantischen Analyse geht es darum, voneinander möglichst unabhängige Merkmale (Freiheitsgrade) zu finden. Dies haben wir für die vorliegende Arbeit mit den Einteilungen der Abdominalhernien getan und 10 solche semantischen Achsen gefunden. Somit bewegt sich der deskriptive Informationsgehalt der Abdominalhernien in einem semantischen Raum von 10 Freiheitsgraden oder Dimensionen. Diese sind:


 

Merkmal

Ausprägungen

Sel.[1]

Allgemeine
Diagnosemerkmale

Allg. Typ der Diagnose

Infekt, Neoplasie, Hernie, Fistel

1

Geburtsstatus

kongenital, erworben

2

Zeitstatus

A: Erstdiagnose, Rezidiv
B: St.n.Operation, nicht op.

2
2

Spezifische Hernien-merkmale

Ort der Hernie

Inguina / Femoralregion / Nabel, Abdomen, Narbe, Diskus, ....

1+1
+3

Komplikation d. Hernie

Einklemmung, Gangrän, keine

3

Bilateralität

einseitig, beidseitig

(2)

Typ Inguinalhernie

direkt, indirekt

(2)

Operations-merkmale

Operationstechnik

A: mit Transplantat, mit Prothese
B: Zugang abdominal, thorakal
C: minimal invasiv, konventionell

3
(2)
2

Dringlichkeit

Wahleingriff, Notfalleingriff

2

Operationszeit

normal, verlängert

2

 

Tabelle 2: Merkmale und Ausprägungen für Abdominalhernien

 

 

Diese 10 Merkmale haben für die Hernien jeweils zwischen 2 und ca. 10 Ausprägungen. Acht der Merkmale sind auf alle Abdominalhernien, eines ist auf mehrere (Bilateralität) und eines (direkt/indirekt) nur auf die häufigste Hernienform anwendbar. Im übrigen aber sind alle Merkmale frei miteinander kombinierbar. Daraus kann die Anzahl der möglichen Kombinationen abgeleitet werden. Wenn wir von 7 frei kombinierbaren Merkmalen à 2 Ausprägungen ausgingen, erhielten wir 27 = 128 mögliche Kombinationen, wenn wir von 10 frei kombinierbaren Merkmalen mit 3 Ausprägungen ausgingen, 310 = 59'049 Kombinationen. Unter Berücksichtigung der jeweiligen Selektionsmöglichkeiten (in der Spalte "sel." ganz rechts, siehe auch die Fussnote) und der konkreten Kombinierbarkeit einzelner Merkmale ergeben sich 28 * (32+3*2+3*22) = 6912 Kombinationen - nur für die Abdominalhernien allein. Kein Code, keine Gruppierung und keine Statistik kann eine solche Zahl von Kombinationsmöglichkeiten im semantischen Raum berücksichtigen.

 

Deshalb muss vereinfacht werden. Dabei werden werden wir gezwungen, gewisse Informationen wegzugelassen und damit den deskriptiven Informationsgehalt zu reduzieren. Nur durch diese Informationsreduktion ist eine sinnvolle statistische oder interpretatorische Auswertung möglich. Ueber die Frage, welche Information weggelassen wird, entscheidet nicht das Objekt, sondern die Absicht der Untersuchung [4,6]. Ein vergleichender Blick darauf, wie die hier besprochenen 8 Klassifikationssysteme die Abdominalhernien einteilen, macht dies schnell klar.

 

Ein visuelle Darstellung der semantischen Verhältnisse, d.h. der konkreten Auswahl der Merkmale und Ausprägungen sowie deren gegenseitigen Bezüge findet sich für jedes der 8 Systeme im Anhang der vorliegenden Arbeit.

 

 

 

3. Spezifische Resultate

 

3.1. Achsenreduktion

 

Für die Diagnoseklassifikationen sind prinzipiell 7, für die Operationsklassifikationen 10 Merkmale anwendbar (für die Diagnosen sind die allgemeinen und die spezifischen Diagnosemerkmale relevant, für die Operationen neben den Operations- auch die Diagnosemerkmale). Trotzdem berücksichtigen die beiden Diagnosecodierungen nur je 4 der 7, die beiden Operationscodierungen nur 3, resp. 5 der 10 möglichen semantischen Achsen. Diese Achsenreduktion ist durchaus sinnvoll, da eine Berücksichtung aller denkbaren Merkmale die Codierung viel zu unhandlich gestalten würde. Interessant ist, welche Achsen jeweils gewählt werden. Natürlich berücksichtigen beide Diagnosecodierungen den Ort der Hernie. Ebenfalls werden die Komplikationen einbezogen. Die ICD-9 unterscheidet dann jedoch zwischen erworbenen und kongenitalen Hernien und die ICD-10 ignoriert dieses Merkmal, differiert aber einseitige und zweiseitige Hernien. Dieser Wechsel im deskriptiven Informationsgehalt entspricht möglicherweise dem erhöhten Interesse der heutigen Zeit (einseitig/zweiseitig) an ökonomischen Gesichtspunkten. Interessant ist, dass zwei eigentlich diagnostische Merkmale erst bei der operativen Codierung eine Rolle spielen, nämlich die Frage, ob es sich um eine Erstmanifestation oder ein Rezidiv handelt (beim VESKA-Code), und ob eine Inguinalhernie direkt oder indirekt ist (entscheidet über den 4-Steller bei der ICD-9-CM). Die Diagnosecodierungen unterschlagen diese Information, welche zumindest bei der Frage Rezidiv/Erstmanifestation nicht ganz unerheblich scheint.

 

Eine Berücksichtigung von möglichst vielen Achsen ist andererseits aber noch lange keine Garantie für eine präzise Abbildung der Realität. Hier sei auf die mituntersuchte Fallpauschale aus einem konkreten "Managed Care"- Vertrag hingewiesen. Diese Einteilung berücksichtigt am meisten, nämlich 8 Merkmale. Trotzdem weist sie den geringsten selektiven Informationsgehalt von allen untersuchten Systemen auf und kann nur zwischen 3 Endzuständen unterscheiden. Wie kommt das? Die Einteilung verwirft von allen Merkmalen das jeweils kompliziertere, unsicherere und riskantere (z.B. Rezidiv, Notfalleingriff, verlängerte OP-Zeit, alle Komplikation..) um schliesslich zwei Gruppen zu erhalten: 1) harmlose und 2) auf irgend eine Weise komplizierte Fälle. Für die komplizierten Fälle offeriert das System keine Fallpauschale, diese Fälle schlüpfen durch die Maschen des Netzes. Die harmlosen Fälle aber werden sorgfältig in einseitige und beidseitige Hernien eingeteilt. Die Folge dieses raffinierten Systems: Das Vertragspital kann seine komplizierten und teureren Fälle weiterhin nach Aufwand abrechnen. Für die harmlosen Fälle aber kann der Kassenmanager gegenüber seinen Vorgesetzten eine drastische Reduktion der Fallkosten ausweisen.

 

 

3.2. Achsentausch

 

Die Codierungen bieten ihre Information in einer Hierarchie von sich verfeinernden Detaillierungsstufen an, z.B. als Kapitel, Unterkapitel, 3-Steller, 4-Steller. Wir untersuchen, ob ein Merkmal konsequent auf der gleichen Hierarchiestufe (z.B. 3-Steller) zur Anwendung gelangt. Dies wäre eigentlich anzunehmen, da eine solche Strukturierung des semantischen Gehaltes systematischer und "logischer" erscheint. Doch nicht jede Einteilung ist so strukturiert. Die beiden Merkmale Hernienort und Komplikation teilen sich bei der ICD-9 Diagnosecodierung die Stufen des 3- und des 4-Stellers mosaikartig, d.h. für die Inguinalhernie entscheidet der 4-Steller über die Komplikationen, während für alle anderen Hernien die Komplikationen auf der Stufe des 3-Stellers, und danach die Frage der präzisen Lokalisation auf der Stufe des 4-Stellers abgehandelt werden. Die ICD-10 ist in dieser Hinsicht ausgereifter und konsequenter: die Lokalisationen werden prinzipiell auf der Stufe der 3-Steller, die Komplikationen auf der Stufe der 4-Steller codiert.

 

Ganz anders ist die Achsenvermengung bei den Gruppeneinteilungen der Versicherer (Rück "A" und Rück "B") zu sehen. Hier geht es nicht darum, möglichst viele Fälle detailliert zu unterscheiden. Die Absicht dieser Einteilungen zielt im Gegenteil auf möglichst wenige Endstufen (Blätter), welche dann direkt Handlungsanweisungen für die Versicherungsagenten im Hinblick auf die zu beurteilenden Versicherungskandidaten entsprechen (aufnehmen, zurückstellen, ablehnen). Dafür müssen möglichst viele unterschiedliche Merkmale untersucht, am Schluss jedoch wieder in ganz wenigen "Kästchen" zusammengefasst werden. Die Einteilungen entsprechen deshalb Entscheidungsalgorithmen, und die Vermengung der Merkmale widerspiegelt hier die diskriminatorische Präzision des Einteilungsprocederes.

 

 

3.3. Kombinatorische Explosion versus Informationsverlust

 

Diese beiden Effekte sind sehr schön beim Vergleich der ICD-9 mit der ICD-10 zu beobachten. Die ICD-9 ist viel plumper strukturiert als die ICD-10 und kann einen Grossteil der Information über die Abdominalhernien nicht festhalten. Die ICD-10 weist demgegenüber einen viel geringeren Informationverlust auf, erkauft sich diesen Vorteil aber mit einer markant höheren Zahl von 4-Stellern (27 gegenüber 17). Diese 27 unterschiedlichen Codes geben allerdings nur Auskunft über 10 verschiedene Ausprägungsvarianten (5 Lokalisationen + 2 "Bilateralitäten" + 3 Komplikationsstufen). Die 27 Einzelcodes werden nur deshalb gebraucht, weil  Kombinationen der Merkmale erfasst werden - allerdings auch nicht alle.

 

Aus prinzipiellen Ueberlegungen ist jede hierarchische Einteilung (Ontologie) mit diesem Makel behaftet: Entweder verliert sie Information oder sie vermehrt die Zahl ihrer Endblätter ins Masslose. Dies wird beim genaueren Blick auf hierarchische Ontologien immer wieder evident, so auch hier.

 

 

3.4. Implizite (uncodierbare) Information

 

Dieses Phänomen folgt als Konsequenz aus dem vorgenannten. Weil eine hierarchische Klassifikation nicht alle unabhängigen Merkmale in allen möglichen Kombination berücksichtigen kann ohne dabei eine kombinatorische Explosion auszulösen, muss sie unterschiedliche Merkmale in ein und demselben Codewert einfangen. Dabei wird eine Information, die als solche eine Entität bildet - z.B. bei der ICD-10 die Information "einseitig" auf mehrere Codes verteilt und es gibt keinen einzelnen Code mehr, der diese Information isoliert enthält.

 

Ein Beispiel: "K40" ist bei der ICD-10 die Inguinalhernie, ist sie einseitig, so sind die Codes "K40.3", "K40.4" und "K40.9" möglich. Die ersten beiden Codes geben zusätzlich noch Hernienkomplikationen an, und sind nur für eingeklemmte bzw. gangränöse einseitige Hernien verwendbar. "K40.9" ist der Code, falls keine Komplikation vorhanden ist. Welches aber ist der Code, falls man nur sagen will, dass es sich um eine einseitige Hernie handelt, ohne das Bestehen von Komplikationen festzustellen oder auszuschliessen? Dann ist der Code ebenfalls "K40.9". Bei diesem Code weiss man also nicht, ob eine Komplikation besteht oder nicht. Zusätzlich wird dieser Code auch für den Fall einer Inguinalhernie verwendet, bei der man nicht weiss, ob sie einseitig oder zweiseitig ist. Wenn wir also die Tatsache "einseitige Inguinalhernie" codieren wollen, dann müssen wir gerade denjenigen Code verwenden, der dann gilt, wenn wir nicht wissen, ob die Hernie einseitig ist (nämlich "K40.9"). Falls wir mit diesem Code für eine Statistik alle einseitigen Hernien aus einer Tabelle heraussuchen wollen, erhalten wir bestimmt auch zweiseitige. Zudem reicht der Code für diese Aufgabe gar nicht aus. Wir müssen in der Tabelle auch die Codes "K40.3" und "K40.4" berücksichtigen, weil auch diese Codes einseitige Inguinalhernien spezifizieren. Mit anderen Worten. Die Information "einseitig" steckt auf eine vertrackte Weise implizit im Codierwerk, welche den Umgang mit dem Code und insbesondere seine Auswertung nicht unbedingt einfach macht.

 

Dieses Phänomen der impliziten, auf mehrere Codes verteilten Information ist typisch für alle hierarchischen Codes und prinzipiell nicht zu verhindern [5], da es untrennbar mit der hierarchischen Architektur verbunden ist. Es kann bei der Behandlung der Abdominalhernien durch den ICD-9 Diagnosecode, den Veska-Code und die ICD-9-CM ebenfalls an vielen Stellen gefunden werden, und wenn ich hier ein Beispiel mit der ICD-10 angeführt habe, dann nur um zu zeigen, dass auch ein im Prinzip sehr sorgfältig durchdachter Code diesem Phänomen unterworfen ist.

 

 

3.5. Ein Code, zwei Bedeutungen

 

Mit dem gleichen Wort meinen wir nicht immer das gleiche. Deshalb unterscheidet die Semantik - im Gegensatz zur Ontologie - immer zwischen Wort (äusserer Form) und Begriff (Inhalt). Dadurch werden viele logische Konflikte vermieden. Sehr treffend ist die Beziehung zwischen Worten, Begriffen und realen Objekten im semiotischen Dreieck nach Ogden und Richards veranschaulicht [7].

 

Ein Codewert ist in dieser Beziehung genau gleich wie ein Wort als ein blosses Symbol anzusehen und genauso wie ein Wort in verschiedenen Nomenklaturen unterschiedliche Bedeutung haben kann, kann der gleiche Code in verschiedenen Codewerken unterschiedliche Bedeutung haben.

 

Als Beispiel dafür sei die erweiterte "K"-Systematik und und ihr Bezug zur ICD-9 Diagnosecodierung angeführt. Die ICD-9 verwendet für die Abdominalhernien die 3-Steller 550 bis 553. Die erweiterte "K"-Systematik verwendet für die Abdominalhernien ebenfalls 550-553, also die genau gleichen vier Codeworte. Allerdings bedeuten sie etwas anderes. 550 ist bei der ICD-9 die Inguinalhernie, 551-553 sind andere Hernien. Bei der "K"-Systematik ist 550 ebenfalls die Inguinalhernie, aber nur diejenige ohne Komplikationen. Die komplizierten Inguinalhernien, welche bei der ICD-9 mit 4-Stellern unterhalb der 550 angeordnet sind, erhalten bei der "K"-Systematik eine eigene 3-stellige Nummer, nämlich 552. Der Code 552 ist bei der ICD-9 aber ein Code für Nicht-Inguinalhernien. Diese erhalten bei der "K"-Systematik die Nummern 551 und 553 und sind in sich völlig anders strukturiert als bei der ICD-9. Als Kuriosum sei erwähnt, dass für die "K"-Systematik auch inguinale Fisteln mit dem Code 552 erfasst werden, obwohl das natürlich keine Hernien sind. Zwischen der ICD-9 und der "K"-Systematik bestehen noch viele weitere Unterschiede, insgesamt handelt es sich um eine gänzlich andere Systematik - allerdings mit den selben vier 3-stelligen Codewerten. Ein schönes Beispiel dafür, wie dasselbe Wort, derselbe Code je nach Kontext etwas völlig anderes bedeuten kann.

 

Woher kommt der Unterschied? Die Schöpfer der erweiterten "K"-Systematik haben natürlich die ICD-9 nicht grundlos abgeändert. Einerseits sind sie zwar bei den "Worten" der internationalen Klassifikation geblieben, um einen Bezug zu einer anerkannten Systematik herzustellen. Andererseits aber war die Binneneineilung der ICD-9 für ihre Zwecke nicht dienlich. Die "K"-Systematik ist eine Einteilung, welche der Beurteilung von Versicherungsrisiken dient. Der genaue Ort der Hernie und die Art der Komplikation ist nicht so entscheidend. Wichtig ist, ob eine Komplikation besteht. Deshalb haben die Schöpfer die ICD-9 in ihrem Sinn verändert, sie vereinfacht und nur gerade die Unterscheidungen behalten, welche für sie Bedeutung haben. Eine schöne Illustration für die These, dass bei der Gestaltung der Systematik nicht das Objekt, sondern die Absicht des Subjekts die entscheidende Rolle spielt [4,6].

 

 

 

 

4. Zusammenfassung

 

Bei der Untersuchung von acht Klassifikationssystemen können für die abdominalen Hernien 10 semantische Achsen unterschieden werden. Der semantische Raum, der durch diese 10 Achsen aufgespannt wird, ergibt für die Merkmale der Abdominalhernien insgesamt 6912 Kombinationsmöglichkeiten. Natürlich kann keine Codierung so viele Kombinationsmöglichkeiten berücksichtigen und deshalb reduzieren alle relevanten Codierungen die Anzahl der Achsen.

 

Durch die semantische Analyse wird sichtbar, wie die einzelnen Merkmale innerhalb der Code-Hierarchie zusammenhängen. Die Anordnung macht klar, welche begriffliche Information in einem Code steckt, welche fehlt, welche auf verschiedene Codewerte verteilt wird, welche Codes sich widersprechende Informationen vereinigen und wann eine klare Zuordnung von Code und Bedeutung gemacht werden kann.

 

Um Fehlinterpretationen zu vermeiden, halten wir eine semantische Analyse für unumgänglich, bevor Code-Daten interpretiert werden. Schon bei der Erhebung der Codes sollten sollten die semantischen Verhältnisse dem Codierer bewusst sein, damit er korrekt, schnell und zuverlässig codiert. Für eine vollständig automatisierte Codierung durch ein Computerprogramm, wie wir sie durchführen, ist eine klare Darstellung der semantischen Verhältnisse eine ganz entscheidende Voraussetzung [8].

 

Keinesfalls darf die hier dargestellte kritische Sicht auf hierarchische Codes als eine Ablehnung zum Beispiel der ICD-10 missverstanden werden. Die ICD-10 erfüllt ihren ganz bestimmten Zweck. Wogegen wir Einwand erheben, ist lediglich der Missbrauch einer epidemiologischen Klassifikation für ungeeignete, z.B. klinische Zwecke. Unsere kritische Sicht auf den Informationsgehalt eines hierarchischen Codes soll im Gegenteil dazu beitragen, Interpretation und Datenerhebung dieses notwendigen und zum gegenwärtigen Zeitpunkt optimalen epidemiologischen Codewerkes zu verbessern.

 

 

 

Fussnote:

 

[1] sel. = Anzahl der Selektionsmöglichkeiten. Dazu 4 Hinweise: 1) Für die erste Zeile (allgemeiner Typ der Diagnose) ist die Anzahl der Selektionsmöglichkeiten gleich eins, da wir nur Hernien untersuchen und somit für dieses Merkmal keine Wahl haben. 2) Die Zahlen in Klammern bezeichnen Merkmale, die nicht für alle Hernien in Frage kommen und deshalb für die Gesamtzahl der Kombinationsmöglichkeiten nur reduziert berücksichtig sind. 3) Die Spaltung des Merkmals Ort der Hernie in drei Gruppen habe ich gewählt, um für die Berechnung der totalen Auswahlmöglichkeiten die Inguinalhernien (die ein/beidseitig und direkt/indirekt sein können) und die Femoralhernien (die ein/beidseitig sein können) von allen anderen Hernien zu trennen, welche die beiden genannten Merkmale nicht aufweisen. Auch dies dient der Berechnung der Gesamtzahl der Kombinationsmöglichkeiten und ist natürlich im Zusammenhang mit dem Hinweis 2) zu sehen. 4) Diskus wurde als Ort der Hernie nicht mitgezählt, da es sich bei der Diskushernie nicht um eine Abdominalhernie handelt.

 

 

 

Literaturangaben

(1) Shannon CE, Weaver W: The Mathematical Theory of Communication. Illini Books edition, Illinois 1963.

(2) McKay DM: Information, Mechanism and Meaning, MIT Press, Cambridge 1969

(3) Straub HR, Mosimann H: Begriffsarchitekturen der 3. und 4. Generation, Schweizerische Medizinische Wochenschrift, 129, 1999:  Suppl 105/II, S 27S

(4) Straub HR: Codierung als Interpretationsvorgang, http://www.meditext.ch/texte/codiervorgang.htm, Okt. 1999. Auch erschienen in: Bulletin SGMI, Nr. 42, Nov. 1999, S.9.

(5) Straub HR, Demarmels M, Frei N, Mosimann H: Zur Architektur des semantischen Raumes bei der
Diagnosecodierung, http://www.meditext.ch/texte/semraum.htm, Okt. 1999. Auch erschienen in: Bulletin SGMI, Nr. 44, April 2000, S.10.

(6) ICD-10 Klassifikation, Band II, Regelwerk: Urban-Schwarzenberg, 1995. S 14.

(7) Ogden CK, Richards IA: The Meaning of Meaning. Orlando: Harcourt 1989

(8) Straub HR: Das interpretierende System - Wortverständnis und Begriffsrepräsentation in Mensch und Maschine, mit einem Beispiel zur Diagnose-Codierung. Z/I/M-Verlag, Wolfertswil, 176 S, Feb. 2001.   Näheres zum Buch

       

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